
Am heutigen internationalen Hebammentag machen wir aufmerksam auf unser Handwerk. Unsere Unterstützung bei Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett ist unersetzlich. Unser Wissen basiert auf jahrhundertelanger Erfahrung und ist heute, kombiniert mit evidenzbasierter Wissenschaft auf dem aktuellsten Stand der Medizin.
Ein guter Anhaltspunkt hierfür sind sogenannte Leitlinien. Unsere Kollegin Lena hat zum aktuellen Thema der neuen Leitlinie zur vaginalen Geburt einmal zusammen gefasst, warum Leitlinien nicht nur für Hebammen, sondern gerade für betreute Paare von großer Relevanz sind und was sie im Groben empfehlen.
Kulturwandel in der Geburtshilfe? Die neue Leitlinie „die vaginale Geburt am Termin“
Seit Ende letzten Jahres ist in der Geburtshilfe von bahnbrechenden Neuerungen zu hören, von einem Kulturwandel in der Geburtshilfe, einer Revolution. Der Grund für die Aufregung: Nach fünfjähriger Arbeit ist die Leitlinie „die vaginale Geburt am Termin“ veröffentlicht worden, die Empfehlungen für die Begleitung von Geburten zwischen SSW 37+0 und 42+0 nach gesunden „Einlings“schwangerschaften gibt.
Warum eine Leitlinie etwas verändern kann.
Leitlinien spielen in der Medizin und auch in der Geburtshilfe eine wichtige Rolle. Sie sind Entscheidungshilfen für die Praxis, die rechtlich nicht bindend sind, aber einen starken Empfehlungscharakter haben. Dies gilt umso mehr, je höher der qualitative Standard einer Leitlinie ist. Gerade Leitlinie der höchsten Klassifikation „S3“ wie „die vaginale Geburt am Termin“ gehören zum Abbild des fachlichen Standards, den jede Fachperson kennen sollte. Sie haben somit das Potenzial, geburtshilfliches Handeln im großen Kontext zu prägen.
Was ist das Besondere an dieser Leitlinie?
Seit Generationen machen Eltern und kritische Fachgruppen in Deutschland auf Missstände in der Geburtshilfe aufmerksam. Sie decken auf, dass negative Erfahrungen während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett keine Einzelschicksale sind, sondern oftmals systemische Probleme der geburtshilflichen Institutionen und der Geburtskultur dahinter liegen. Das Private ist politisch! Über solche Kritik hinaus, Reflexion und Veränderungen der Praxis zu fordern, erschien lange Zeit wenig aussichtsreich. Die geburtshilflichen Strukturen sind hierarchisch geprägt und beständig, Veränderungen entsprechend mühsam zu erreichen. Auch in der Einleitung der neuen Leitlinie wird darauf hingewiesen „[…] dass mitunter tradierte Maßnahmen unreflektiert und unter Verzicht einer wissenschaftlichen Grundlage über Generationen weitergegeben wurden.“ (S.9).
Als S3-Leitlinie legen die neuen Handlungsempfehlungen nun aber einen Anspruch zugrunde, den man als „Evidenz vor Eminenz“ umschreiben könnte. Evidenz ist dabei nicht nur als wissenschaftlich höchstes Niveau auf Grundlage von hochwertigen Studien und Expertise der beteiligten Fachgesellschaften zu verstehen, sondern beinhaltet auch den Einbezug der Wünsche und Präferenzen der betroffenen Personen – der Familien.
Ganz in diesem Sinne hat mit Mother Hood erstmals eine Elterninitiative bei der Erarbeitung einer geburtshilflichen Leitlinie mitgewirkt. Und neben Ärzt*Innen haben Hebammen die Federführung in der Ausarbeitung übernommen
… und das ist nicht nur eine Formalie, sondern spiegelt sich inhaltlich wider – die Empfehlungen sind im Vergleich zum Status quo wirklich bahnbrechend.
Der hebammenspezifische und auch der familienorientierte Blick ist in der Leitlinie deutlich vertreten – Fokus ist die Selbstbestimmung der Gebärenden und die Frage, wie Geburt als gesunder Prozess gefördert werden kann. Für uns Geburtshaushebammen ist das schon sehr besonders und zukunftsweisend: Viele Handlungsprinzipien, die Hebammen schon lange umsetzen – auch und gerade in der außerklinischen Arbeit – werden nun durch Evidenzen gestützt und haben ihren Weg in die Empfehlungen gefunden.
Was bedeutet das konkret für Mütter / Kinder / Eltern?
Einige Beispiele für wegweisende Empfehlungen:
• Frauen sollen ausführlich und mit Zugang zu wissenschaftlich fundierten Informationen beraten und aufgeklärt werden, um selbstbestimmte Entscheidungen treffen zu können.
• Frauen sollen eine objektive Beratung zu allen Geburtsorten und -möglichkeiten erhalten – ohne persönliche Sichtweisen und Urteilen von Fachpersonen.
• Während in vielen Klinikstandards klare Zeitangaben für die jeweilige Dauer der einzelnen Geburtsphasen gemacht werden, unterteilt die neue Leitlinie die Phasen jeweils in einen passiven und einen aktiven Teil. Während der passiven Phasen wird nicht mit einem „Fortschritt“ der Geburt gerechnet – was unter dem Strich zu weniger Zeitdruck im Kreißsaal führt.
• Frauen soll spätestens in der aktiven zweiten Phase der Geburt eine 1-zu-1-Betreuung durch eine Hebamme zugänglich sein.
• Es hat sich gezeigt, dass eine routinemäßige CTG-Überwachung bei unauffälligen Geburten keine Vorteile für Mutter und Kind bietet, aber zu erhöhten Interventionsraten führt. Daher sollen die kindlichen Herztöne per Höhrohr oder Dopton erfasst werden. In der Regel bietet das der Mutter mehr Bewegungsspielraum.
• Nach der Geburt sollen Frauen sobald wie möglich zu Haut-zu-Haut-Kontakt mit ihrem Kind ermutigt werden. Währenddessen sollen alle Maßnahmen des Personals so weit wie möglich reduziert werden.
Einige dieser Empfehlungen klingen erstmal selbstverständlich – in der Praxis zeigt sich aber, dass oftmals Luft nach oben ist. Andere Empfehlungen lassen sich unter den derzeitigen Bedingungen noch nicht immer umsetzen – z.B. kann die Herztonkontrolle mit dem Dopton nur durchgeführt werden, wenn wirklich eine 1-zu-1-Betreuung gegeben ist – und die erscheint in vielen Kreißsälen aufgrund von Personalmangel noch unrealistisch. Aber: Die Leitlinie bietet den Kliniken die Möglichkeit, Forderungen nach Maßnahmen für mehr Personal an die Politik zu stellen. Eltern bietet sie eine Grundlage, solches klinisches Engagement einzufordern.
Ist die neue Leitlinie also ein Kulturwandel in der Geburtshilfe?
Wir finden: noch nicht – aber ein großer Schritt auf einem guten Weg, der zeigt, dass unmöglich Geglaubtes realisierbar werden kann. Die Qualität der Leitlinie ist nicht vom Himmel gefallen, sie ist auch als ein deutliches Zeichen zu sehen, dass sich Bewegungsarbeit lohnt und dass zukünftig mit den Stimmen der Eltern und Hebammen in geburtshilflichen Handlungsempfehlungen mehr und mehr zu rechnen ist. Ein Zeichen, dass wir gerade heute am Welthebammentag, an dem viele Eltern und Hebammen politisch aktiv werden, gut gebrauchen können!
Wir hoffen, wir haben euch nun neugierig gemacht und empfehlen zur weiteren Information über die Empfehlungen der Leitlinie diesen Artikel von MotherHood und dieses Interview von Kristin Graf mit der Hebamme Christiane Schwarz, die an der Leitlinie mitgearbeitet hat.
Auch die Leitlinie selbst ist frei zugänglich – allerdings sind Kurz- und Langfassung mit 126 bzw. 219 Seiten umfangreiche Lektüre. Eine Fassung in laienverständlicher Sprache ist in Planung.
Text: Lena Hamann
Foto: Carlo Navarro / Unsplash
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